Dienstag, 28. August 2018

Obdachlos

                 Dass Fremde schaut Dich
                Abwehr aufrufend an.
               
                Irritiert drängst Du Bilder zurück,
                die diesen Menschen
                in eine Scharade von Vorurteilen einbinden,
                weil Du nicht gewillt bist
                tiefer hinzuschauen.

                Du wagst den zweiten Blick
                und siehst in tiefblaue Augen,
                die still in sich ruhend
                Dich unverwandt anschauen -
                Dein Vermeinen zerplatzen lassen.

                Tiefer in Dir verankert
                siehst Du die zahllosen Strömungen,
                die durch diese Augen hindurchgehen,
                von denen die Gleichgültigkeit
                der vorüber Eilenden
                noch die Geringste ist.

                Und spontan wendest Du Dich
                diesem Menschen zu -
                sprichst mit ihm eine lange Zeit.

                Du hörst in kargen Worten eine Geschichte
                von Freiheit und unendlichem Mut,
                einem Leben im Niemandsland dieser Welt
                beinahe ein ganzes Leben lang,
                mit einer menschlichen Würde -
                die sprachlos macht.

                Wer lebt und arbeitet hier entschiedener
                für menschliche Erneuerung?
                Wer stellt sich so als Ich hinein in diese Welt,
                in die hektischen Traumlandschaften dessen,
                was allzu viele als das Leben ansehen,
                lebt erwachend sich selber zu?

                © baH, 30.08.2011/28.08.2018

Ein Weniges zum Entstehungshintergrund von "Obdachlos."
Der Ursprung von "Obdachlos" reicht eigentlich in eine Zeit vor 40 Jahren zurück, als ich in einer mittelgrossen süddeutschen Grossstadt dem "Fürsten," wie er unter seines gleichen genannt wurde erstmals begegnete. Seinerseits obdachlos, war er schon durch seine blosse äussere Erscheinung eine imposante Gestalt. Wo er erschien, war jeder Streit unter Obdachlosen bald beigelegt.
Es war ein besonderes Erlebnis einer Runde von Menschen, in deren Mitte er sass einfach nur still beizuwohnen. Die Art wie dieser Mensch zuhören konnte war beeindruckend, denn er fand auf diesem Wege nicht selten zu Lösungen, wo nichts mehr zu gehen schien. Und er begleitete und unterstützte dann auch soweit, dass diese Lösung im Leben des Betreffenden verankert werden konnte.
Selber keinen Lohn nehmend, obwohl er durchaus für sein Leben etwas gebrauchen konnte, beschenkte er andere Menschen fortlaufend mit Orientierung und „dem letzten Hemd,“ das er selber besass und verhalf ihnen wieder Tritt zu fassen in ihrem Leben, was vor allem gegen die sogenannte „stille“ soziale Ausgrenzung,  wenn ein Mensch einmal ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen war alles andere als leicht war. Er selber aber verblieb, so wie ich es heute sehe, bewusst ganz unten, um für diese Menschen präsent sein zu können. Das Urbild des sozialen Streetworker.
Jahre später blieb sein Herz urplötzlich stehen. Es hatte über die eigene Not hinweg zu sehr für andere Menschen geschlagen!
Als ich viele Jahre danach dann jenem anderen Obdachlosen begegnete, einem von vielen weiteren im Laufe der Jahre, da stand dieses Gedicht in seinen Grundzügen plötzlich vor meinem inneren Auge.
Ich betrachte es als eine „Hommage an den Menschen“ in einem sozialen Umfeld, in dem der Mensch in seiner Werde-Zerbrechlichkeit allzu oft nicht mehr gesehen wird.

Bernhard Albrecht Hartmann

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