Donnerstag, 14. März 2013

Katharsis

Eine Antwort auf „sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Poesie II von Angel Maria Perezano in seinem Blog Lebensmelodie vom 01.02.2013
„Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Dichtung niemals Empfindungen transportiert, die wir selbst erfahren haben. Sprache operiert immer in Zeichen und Symbolen; es ist nicht möglich, sie eindeutig zu entschlüsseln. Ich halte es da ganz mit Friedrich Schlegels Methode der Zyklisation – das perpetuierende Wiederlesen eines Textes, welches stets neue Lesarten ermöglicht. Nie ist ein Text abgeschlossen, weder aus Autorensicht noch aus Rezipientensicht.
Unsere Vorurteile und Denkmuster fließen in jede Lektüre mit ein. Wir müssen darüber reflektieren, inwieweit sie unsere Sicht auf textuelle Zusammenhänge beeinflussen (Filter-Effekt). Sind wir in der Lage, den Kontext einer Botschaft zu entziffern? Welche Instrumente bringen wir mit, um einen literarischen Text unter spezifischen Gesichtspunkten zu lesen? Nicht zuletzt erfolgt die Wiedererkennung bzw. Identifikation des Ichs mit (seinen) fiktiven Entsprechungen über Äquivalenz- und Kontrastrelationen.
Emotionalität beruht in literarischen Texten meist auf Ähnlichkeitsrelationen zwischen realen (menschlichen) Erfahrungen und bildlichen Entsprechungen. Die individuelle Empirie wird substituiert durch die Allegorie, die Metapher, das Syntagma. – Dies sind keine stilistischen Anforderungen, sondern Wirklichkeitsgegebenheiten. Literatur zu schaffen, bedeutet zugleich, über die Wirklichkeit und ihre prozessuale Konstitution zu reflektieren. Um mit Heidegger zu sprechen: Ohne Sprache kein Sein.“
Angel Maria Perezano, 01.02.2013 - http://www.lebensmelodie.wordpress.com

Ob das so ist, "dass Dichtung niemals Empfindungen transportiert, die wir selbst erfahren haben?"
Zyklisation einmal als einen zutiefst inneren Prozess genommen: Bauen sich dann Empfindungen nicht auf aus mitunter unendlich vielen Schichten des Erlebens, die in einer vereinzelten Schicht als Empfindungen nicht unbedingt sogleich ins Bewusstsein treten, bzw., die in einem Teilmosaik auch wieder wie weg dämmern können, bis sie dann in voller Reife , vielleicht sogar in einem völlig neuen Kontext, voll ins Bewusstsein rücken?
Empfindungen, die der Dichter transportiert, sind so gesehen gleichsam wie Aquarelle, die der Dichter in einem bestimmtem Augenblick gesättigter Schichtung, der Verdichtung in Sprache ausdrückt. Dabei kann es geschehen, dass er von dem Bild, das er in Sprache fasste selber so überrascht wird, dass er es in seinem Empfindungsgehalt in Bezug auf sich selbst nicht als selbst erfahren ansehen kann. Was er übersieht, ist der Reifeprozess, durch den seine Seele gegangen ist, um dieses Sprachbild hervorbringen zu können. Zyklisation der Wahrnehmung.
Empfindungen bilden im Laufe ihrer Entwicklung einen ihnen eigenen Resonanzkörper aus, der den Träger dieser Empfindungen mit immer neuen Ereignissen in Berührung bringt, in denen diese Empfindungen die Möglichkeit erhalten sich umzuformen, ihre Ausdrucksform zu vertiefen oder aber in sich zu verfestigen und damit den Hintergrund abgeben für sich bildende Vorurteile und innere Barrieren, über die diese Empfindungen dann nicht hinaus wachsen, ein reiferes Angesicht ihrer selbst annehmen können.
Die Empfindungen stehen also zu ihrem Träger in einer wechselseitigen Beziehung. Je nachdem, ob eine Empfindung ihren Träger hinter sich her zieht oder der Träger in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt Empfindungen in sich aktiv ausdifferenziert, reifen diese Empfindungen und finden über eine Dichterseele in starken Bildern ihren Ausdruck. Die Bilder in einem Gedicht haben also ihre Geschichte, an der der Dichter erlebend einen grossen Anteil an eigenen inneren Erfahrungen hat.
Natürlich können Dichtwerke auch in einer aufgesetzten Sprache daher kommen, in ihrem sprachlichen Ausdrucksgehalt mehr oder weniger konstruiert oder auch willkürlich erscheinen. Insofern zeigt ein Dichtwerk also immer den Grad an innerer Katharsis, den ein Dichter selber durchgemacht hat oder noch in sich vollzieht, auf. Im Gegensatz zur Alltagssprache und ihren Ausdrucksweisen, in der manches verschleiert werden kann, kann Dichtung nicht lügen. Der Leser bemerkt die diesbezüglichen Unebenheiten in ihrer Sprache auf je eigene Weise unmittelbar.
Warum: Weil der Leser seinerseits in einem inneren kathartischen Prozess darinnen steht. Katharsis wird von Katharsis an- oder abgestossen. Über die Fremdidentifikation findet der Leser den Weg zur Selbstidentifikation und in die Kraft seines eigenen Ich Ausdrucks. Ein Merkmal guter Dichtung ist es, wenn ein Dichtwerk im Leser dessen Kathartischen Prozess zu fördern vermag, wenn es gewissermassen die Zyklisation innerhalb seiner Empfindungswelt belüften und beleben kann.
Dies hat schon Aristoteles erkannt und deshalb der Dichtung einen so hohen Rang zugesprochen.

© Bernhard Albrecht, 14.03.2013

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