Sirenen heulen auf und abschwellend durch die Stadt,
Menschen eilen von überall her auf Bunkeranlagen zu,
eine Gruppe von achtzig Kindern sammelt sich
unter der Leitung einer jungen Kindergärtnerin,
betritt ruhig und diszipliniert die Kellerräume eines Hauses,
setzt sich, eng aneinander gerückt, auf vorbereitete Bänke;
feiner Sand rieselt von der Decke -
Während die Sirenen noch weiter heulen,
beginnt die Kindergärtnerin zu erzählen,
das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen;
sie erzählt und ein Mantel der Stille legt sich um die Kinder,
sogar die Erwachsenen kleben bald an ihrem Mund
und Tränen kullern verschämt über die eine oder andere Wange;
urplötzlich ein Krachen, ein heftiges Rütteln erschüttert das Haus -
Ein panischer Schrei, wir sind verschüttet,
eine Bombe hat das Haus getroffen im Eingangsbereich;
die Kindergärtnerin unterbricht nur kurz ihr Erzählen,
macht mit ihren Armen eine weit umfassende Gebärde nach unten
und die Kinder schlüpfen wieder unter den Mantel der Stille;
bald sind Schaufeln und Hacken zu hören,
auf Schneewittchen folgt Rotkäppchen -
Die Kindergärtnerin lässt auf engsten Raum einen Reigen tanzen,
die Kinder zeichnen Rotkäppchens Blumen in den Staub vor sich
erzählen von den Blumen, die sie heute schon gepflückt
und überbringen sie in einer symbolischen Gebärde
den Erwachsenen im Keller;
keine Panik, nur Stille und etwas wie ein Duft von Blumen,
eine Insel des Friedens mitten im Krieg.
Nach zwei Stunden, Licht und Stimmen, ist jemand verletzt,
die Kinder kommen frei,
von Sorge gebeutelte Eltern umarmen ihre Kinder,
beschämte Blicke streifen die Kindergärtnerin,
da und dort ein Händedruck des Dankes;
noch immer umgibt die junge Frau ein Mantel der Stille,
im Kindergarten schmückt sie die Tische für den nächsten Tag -
© baH, 24.04.2013
Seiner Berufung wird ein literarisch arbeitender Mensch dann gerecht, wenn er durch sein Wortschaffen Wege der Entwicklung für den Menschen eröffnet. Das Wort D-ich-tung spricht es deutlich aus. Es geht um das Ich, um einen Weg der Authentizität in Bezug auf das eigene dichterische Tun. Diesen Weg zeichnete einst schon Aristoteles in seiner Poetik vor. Aus geistesgegenwärtiger Präsenz im Gespräch unter Autoren diesen Weg erneut frei zu legen, dazu will dieser Blog ein Forum sein.
Mittwoch, 24. April 2013
Verschüttet
Die immer neue Herausforderung: Im Gespräch mit dem Du sich finden im Ich. Dichtung, ein Weg der Verdichtung auf das Ich hin, Erwachen zu sich selbst in Ich-Verantwortung. Das Du wird dem innerlich wachen Beobachter auf diese Weise zu einer Quelle eigener Entwicklung und darüber hinaus auch eine mögliche Quelle literarischer Inspiration.
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Großartig, lieber Bernhard, einfach großartig.
AntwortenLöschenMit großem Interesse habe ich diese sprachlich fein gebaute und inhaltlich spannende Kurzgeschichte in einem Zug und dann noch einmal gelesen.
Da ist dir etwas ganz wunderbares gelungen!!!
Ich danke Dir, dass ich Anteil haben durfte an dieser wunderbaren Geschichte... ich werde bei Isabella Kramer anklopfen und Ihe Deine Geschichte nahe bringen, ich denke, dass das auch ein guter Beitrag für Ihre Kinderseite wäre...
Liebe Grüße
Gabriele
Ich habe Isabella geschrieben, da sie jedoch auf einer langen Reise ist, werden wir auf die Antwort noch ein Weilchen warten müssen.
AntwortenLöschenLG
Gabriele
Gerne, sehr gerne werde ich es in meiner Kinder-Gedichte-Welt veröffentlichen. Es ist eine wirklich berührende, wundervolle Geschichte, die einen wertvollen Beitrag dort und überhaupt darstellt.
AntwortenLöschenVielen Dank für diese Möglichkeit.
herzlichste Grüße
isabella
LiebeGabriele, liebe Isabella
AntwortenLöschenMit viel Arbeit zugedeckt und dann mehrere Tage abwesend habe und konnte ich nicht sogleich antworten. Dank Dir Gabriele für Deine Vermittlung und Dank Dir Isabella für die Veröffentlichung auf Deiner Kinderseite.
Die Geschichte hat sich übrigens genau so tatsächlich ereignet, wie ich sie in Worte zu fassen versuchte, vor 70 Jahren bei einm Bombenangriff auf eine Kleinstadt in Bayern. Sie wurde mir erzählt von einer Frau, die mich an ihrem Lebensrückblick teilhaben liess, nachdem ihr die Diagnose Krebs eröffnet worden war. Nur fünf Wochen danach starb sie lächelnd mit den Worten auf den Lippen: Ihr müsst "weiter" denken!
Die Stille war ihr Wirkensfeld, ein Leben lang.
Ganz liebe Grüsse Euch beiden,
Bernhard Albrecht